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  • Prokrastination verstehen – Teil 2: Wege aus dem Aufschieben

Vom Verstehen zum Verändern

Im ersten Teil dieser Serie haben wir Prokrastination nicht als Faulheit entlarvt, sondern als emotionales Schutzverhalten. Wer aufschiebt, flieht selten vor der Aufgabe selbst – sondern vor den inneren Spannungen, die sie auslöst. Perfektionismus, Angst vor Bewertung, Scham und Selbstzweifel können starke Blockaden sein.

Doch wie lässt sich dieses Wissen in Veränderung übersetzen? Wie gelingt es, Prokrastination zu durchbrechen, ohne sich selbst zu überfordern oder mit starren Produktivitätsstrategien zu überziehen?

In diesem zweiten Teil geht es um genau das: nicht um schnelle Lösungen, sondern um eine nachhaltige, mitfühlende Annäherung an das, was uns wirklich hilft, wieder handlungsfähig zu werden.

1. Selbstmitgefühl statt Selbstoptimierung

Viele Menschen, die prokrastinieren, gehen besonders hart mit sich selbst ins Gericht. Sie beschimpfen sich innerlich, zweifeln an ihrer Würde und ihrem Wert, vergleichen sich mit scheinbar “produktiveren” oder “besseren” anderen – und geraten dadurch in eine Spirale aus Schuld, Druck und weiterem Aufschieben.

Doch die Forschung zeigt: Selbstmitgefühl ist der Schlüssel zur Veränderung, nicht Selbstbestrafung. Denn unser Nervensystem kann nur dann neue Wege lernen, wenn es Sicherheit erlebt.

Studien (z. B. von Kristin Neff) belegen, dass Menschen mit höherem Selbstmitgefühl eher bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – nicht weil sie müssen, sondern weil sie sich dabei nicht entwertet fühlen.

Impuls: Eine andere innere Stimme entwickeln

Frage dich in schwierigen Momenten bewusst:

Wie würde ich mit einem guten Freund sprechen, der gerade blockiert ist?

Und dann: Sprich genau so mit dir selbst. Nicht als Vermeidung – sondern als liebevoller Boden für echte Veränderung.

Klingt vielleicht erstmal merkwürdig, ein Versuch lohnt aber durchaus 🙂

2. Emotionale Klärung vor Handlung

Häufig scheitert Veränderung daran, dass wir uns zwingen, bevor wir verstehen. Doch solange unbewusste Ängste oder innere Konflikte aktiv sind, wird jede Aufgabe zur Bedrohung. Deshalb braucht es zuerst: Klarheit darüber, was wirklich innerlich los ist.

Reflexionsfragen:

  • Was genau macht diese Aufgabe so unangenehm? (Unsicherheit, Bewertung, Sinnlosigkeit?)
  • Was befürchte ich, wenn ich sie schlecht erledige?
  • Welche Botschaft über mich selbst steht auf dem Spiel?

Diese Art der Selbsterkundung holt das Unbewusste ans Licht – und reduziert die emotionale Bedrohung. Erst dann wird echte Handlungsfreiheit möglich.

3. Vom Warum zum Wie: Innere Motivation stärken

Viele To-do-Listen scheitern nicht an ihrem Inhalt – sondern daran, dass der Sinn dahinter fehlt. Eine Aufgabe, die sich fremd anfühlt, erzeugt Widerstand. Eine Aufgabe, die in Verbindung mit unseren Werten steht, wird leichter zugänglich.

Motivation entsteht nicht durch äußeren Druck, sondern durch innere Relevanz.

Impuls: Die Warum-Frage stellen

  • Warum ist mir diese Aufgabe eigentlich wichtig?
  • Wofür steht sie – in Bezug auf mein Leben, meine Werte, meine Entwicklung?

Wer diese Verbindung herstellt, aktiviert ein anderes Motivationssystem: nicht mehr das der Angstvermeidung, sondern das der Selbstverwirklichung.

4. Vom Berg zum ersten Schritt: Realistische Aktivierung

Prokrastination lebt von der Überwältigung. Aufgaben erscheinen als zu groß, zu diffus oder zu fern. Die Kunst liegt darin, nicht den ganzen Berg zu besteigen – sondern den ersten Schritt sichtbar, greifbar und machbar zu machen.

Praktisches Tool: Die 10-Minuten-Regel

„Ich fange nur für 10 Minuten an – und darf danach wieder aufhören.“
Diese Regel reduziert die Einstiegshürde, nimmt sehr viel Druck und trickst das Gehirn aus. Häufig entsteht dabei Schwung, der weiterträgt – aber auch wenn nicht, wurde der Stillstand unterbrochen. Und diesen Stillstand gilt es immer wieder zu durchbrechen.

Weitere Strategien:

  • Aufgaben herunterbrechen in Mini-Schritte
  • bewusst Übergangsrituale schaffen (z. B. „Ich mache mir erst einen Tee – und dann beginne ich mit Punkt 1“)
  • Planung realistisch halten (max. 3 Aufgaben am Tag)

5. Innere Antreiber erkennen – und entmachten

Viele Aufschieber tragen unbewusste Glaubenssätze mit sich, die in Kindheit oder früher Sozialisation entstanden sind:

  • „Nur wenn ich perfekt bin, bin ich liebenswert.“
  • „Ich muss alles alleine schaffen.“
  • „Ich darf keine Fehler machen.“
  • „Du schaffst das eh nicht.“
  • „Dir fehlt der Biss.“

Diese inneren Antreiber erzeugen chronischen Druck – und führen paradoxerweise dazu, dass wir uns selbst sabotieren. Der Ausstieg gelingt nicht über Willenskraft – sondern über das bewusste Entlarven dieser Stimmen und das Einüben neuer, unterstützender Überzeugungen.

6. Langfristig denken: Prokrastination als Beziehungsthema

Aufschieben betrifft nicht nur Aufgaben – es betrifft unsere Beziehung zu uns selbst: zu unserer Zeit, unserer Energie, unseren Grenzen. Oft prokrastinieren wir, weil wir gelernt haben, uns selbst zu überfordern, uns fremdbestimmt zu organisieren oder nicht auf unsere inneren Signale zu hören.

Veränderung bedeutet daher nicht nur: anders handeln. Sondern auch: sich anders behandeln.

Und nun….

Was wäre, wenn Prokrastination kein Hindernis, sondern ein Hinweis wäre – auf das, was in meinem Leben heilen oder reifen will?

Der freundliche Weg aus dem Aufschieben

Der Weg aus der Prokrastination beginnt nicht mit Disziplin – sondern mit Bewusstheit, Mitgefühl und innerer Klärung. Wenn wir verstehen, wofür wir Aufgaben aufschieben, erkennen wir, wofür wir wirklich bereit sind, zu handeln.

Vielleicht ist Prokrastination gar kein Feind, den wir bekämpfen müssen. Sondern ein Signal – das uns auffordert, ehrlicher mit uns selbst zu sein.

Zu guter Letzt noch die ein oder andere Literaturempfehlung, falls du das Thema noch vertiefen magst:

Hans-Werner Rückert – Schluss mit dem ewigen Aufschieben: Wie Sie umsetzen, was Sie sich vornehmen

Volker Kitz & Manuel Tusch – Warum uns das Aufschieben glücklich macht – und warum nicht

Rolf Dobelli – Die Kunst des klaren Denkens

Jens Corssen – Der Selbstentwickler: Die persönliche Erfolgsstrategie für Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen